Weltfrauentag:
Auf der Flucht vor mordenden Machos

Nicolle ist mit ihren Kindern auf der Flucht vor ihrem brutalen Ex-Freund. Eine Migrantenherberge in Guatemala, die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird, bietet ihr Schutz. Gewalt gegen Frauen ist in Mittelamerika an der Tagesordnung, 874 Frauenmorde wurden 2021 gezählt.

Nicolle kann in der von Adveniat unterstützten Migrantenherberge durchatmen und sich um ihre erst drei Monate alte Tochter
Angela kümmern.
Foto: Florian Kopp/Adveniat

Nicolle hat Durst. Einen Becher Wasser nach dem anderen trinkt sie in der Migrantenherberge in Tecún Umán an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. 15 Stunden ist die Honduranerin schon bei über 30 Grad Hitze unterwegs mit ihrem Lebensgefährten Ariel und den drei Kindern. Die erst einen Monat alte Angela bekommt noch die Brust. Nicolles Gesicht ist rot vor Hitze. Sie rennt um ihr Leben. In der vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützten Migrantenherberge kann sie endlich einmal durchatmen.

Die Familie aus Honduras war in die Schusslinie krimineller Jugendbanden geraten. Das Mordkommando stand bereits vor der Tür. Es war eine überstürzte Flucht. Eine rosa Wickeltasche, eine Plastiktüte, ein Karton mit Süßigkeiten, die sie unterwegs verkaufen, und ein alter Maissack mit Klamotten und ein paar Habseligkeiten – das ist alles, was von ihrem alten Leben übrig ist.

Schuld war die falsche Jugendliebe. Nicolle, noch nicht volljährig, verliebte sich in einem Armenviertel der Hauptstadt Tegucigalpa in den Nachbarsjungen. Sie wurde schwanger und brachte Jassiel zur Welt. Der Vater von Jassiel war da schon abgetaucht in die kriminelle Unterwelt und stieg zu einem wichtigen Bandenchef auf. Nur ein paar Monate später erwischte ihn die Polizei, und er kam ins Gefängnis. „Nie hat er Unterhalt bezahlt“, erzählt Nicolle. Doch „sein Mädchen“ gab er trotzdem nicht frei. So will es der machistische Ehrencode der Kriminellen.

874 Frauenmorde im Jahr 2021 lautet die traurige Bilanz für Mittelamerika. Frauen werden unterdrückt, misshandelt und ermordet, sie werden erstochen, erschossen, totgeprügelt und mit Säure übergossen. Andere werden entführt und vergewaltigt oder verschwinden spurlos. Polizei und Justiz ermitteln nur selten. Die überwiegend männlichen Beamte sind der Auffassung, dass Frauen ihren Lebenspartnern untergeordnet sind und diese das Recht haben, sie zu züchtigen. Unterhaltsklagen sind langwierig und teuer und haben kaum Aussicht auf Erfolg, weil sich die Männer für mittellos erklären. Auch die Politik agiert frauenfeindlich. Die dortigen Länder haben die striktesten Abtreibungsgesetze der Welt, sogar wegen Fehlgeburten werden Frauen ins Gefängnis gesteckt.

Nicolle, gerade volljährig geworden, wollte sich diesem machistischen Diktat nicht beugen. Sie verliebte sich neu. Als Jassiels Vater davon erfuhr, schäumte er vor Wut und ließ den Nebenbuhler ermorden. Zu dem Zeitpunkt war Nicolle gerade erst Mutter geworden und Kyllian nur ein paar Monate alt. Der Mord ging ein in die Polizeistatistik, aufgeklärt wurde er nicht. Nicolle floh traumatisiert aufs Land, möglichst weit weg von Tegucigalpa. Mit einem neuen Mann sollte dort der Neuanfang gelingen. Ariel, der Vater der heute einen Monat alten Angela, arbeitete in einem Frisörladen, Nicolle verkaufte Handys. Eine Zeitlang war die Familie glücklich. Ariel kümmerte sich aufopfernd auch um Nicolles Söhne, die „Papa“ zu ihm sagen. Nicolle glaubte, dem Alptraum entkommen zu sein.

Doch die Vergangenheit holte sie gnadenlos ein. Ein Nachbar warnte sie noch rechtzeitig mit einem Telefonanruf. „Bewaffnete sind in euer Haus eingedrungen, sie haben die Türe eingetreten und durchwühlen alles“, berichtete er Ariel. „Gott sei Dank waren wir nicht zuhause.“ Ariel ließ sich in dem Frisörsalon, in dem er arbeitete, den ausstehenden Wochenlohn – umgerechnet 80 Euro – auszahlen. Sie holten die Kinder aus der Schule und nahmen den nächsten Bus in Richtung Grenze. Unterwegs kauften sie einen Karton voller Süßigkeiten, die sie nun verkaufen, um ihre Flucht zu finanzieren. Ihr Ziel sind die USA. Bis dorthin, so hoffen sie, reichen die Tentakel der Mafia nicht.

Es ist eine lange, teure und gefährliche Reise. Unterwegs lauern Grenzpolizisten und Schlepper. Kleine Kinder sind besonders exponiert. „Wenn wir in einer Migrantenherberge unterkommen können, ist das eine enorme Erleichterung“, sagt Ariel. Ein sicheres Bett, eine warme Mahlzeit, medizinische Versorgung, ein Stück Seife – all das sind Dinge, die das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat mit Spendengeldern finanziert, und die für Nicolle und ihre Familie einen großen Unterschied machen. Es sind kleine Gesten der Würde, aus denen sie Kraft schöpfen für die nächste Etappe ihrer strapaziösen Flucht in ein Land, in dem auch die Frauen Rechte haben.

Sandra Weiss