Filmtipp: Land der verlorenen Kinder

Es beginnt im Dunkeln. Vor einer Betonbaracke entzünden Kiara und ihre Kinder mit Benzin gefüllte Dosen als behelfsmäßige Laternen. Später flackert das Licht zwischen den kahlen Wänden. Während Kiara ein karges Essen zubereitet, wedelt ihre kleine Tochter mit einem leeren Teller über dem schläfrigen Brüderchen, um die Moskitos zu verscheuchen. Dieses spärliche, unruhige Licht in der Nacht symbolisiert die scheue, flüchtige Hoffnung angesichts der erdrückenden Tristesse, von der Juan Camilo Cruz und Marc Wiese in „Das Land der verlorenen Kinder“ erzählen.

„Das Land der verlorenen Kinder“ ist ein aufwühlender Dokumentarfilm über die erschütternden Zustände in einem Elendsviertel der venezolanischen Millionenstadt Maracaibo (Symbolbild). Foto: Adveniat/Marco Antonio Bello

Venezuela, erläutern knappe Texteinblendungen, könnte angesichts der Fülle an Bodenschätzen ein reiches Land sein. Doch Korruption und Misswirtschaft haben es in den Ruin getrieben. Exemplarisch gezeigt wird das anhand des Barrio Santa Rosa in der venezolanischen Stadt Maracaibo. Das Viertel ist von Armut und der Gewalt rivalisierender Banden sowie einer korrupten Polizei geprägt.

Kiara, die dort allein mit ihren vier Kindern lebt, ist mit 33 Jahren bereits zum siebten Mal schwanger. Sie hat schon viele Kinder an Unterernährung sterben sehen. Die Toten werden in Tüten begraben, weil niemand Geld für Särge habe. Auch ihre älteste Tochter ist gestorben; ein weiteres Kind hat sie bei einer Fehlgeburt verloren. Mit drei ihrer vier Kinder bricht sie schließlich nach Kolumbien auf, wo sie auf soziale Unterstützung hofft. Dass sie bereits nach zwei Wochen wieder zurückgeschickt wird, ahnt sie da noch nicht.

Jugend steht im Mittelpunkt der Adveniat-Weihnachtsaktion 2024

„Glaubt an uns – bis wir es tun!“ ist das Motto der Adveniat-Weihnachtsaktion 2024. Viele Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik haben den Glauben an eine gute und sichere Zukunft verloren. Ausreichende Schul- und Berufsausbildungen werden ihnen verweigert. Sie hungern, werden Opfer krimineller Banden oder begeben sich auf eine der lebensgefährlichen Fluchtrouten in den reichen Norden. Unter dem Motto „Glaubt an uns – bis wir es tun!“ stellt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat das Thema Jugend in den Mittelpunkt der diesjährigen bundesweiten Weihnachtsaktion der katholischen Kirche. In Jugendzentren, mit Aus- und Weiterbildungsprogrammen sowie Stipendien für den Berufseinstieg bietet Adveniat mit seinen Partnerorganisationen der Jugend in Lateinamerika und der Karibik eine Zukunft.

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Wer sich wehrt, wird erschossen

Ihr ältestes Kind, den 14-jährigen Yorbenis, lässt sie allein zurück, obwohl sie Angst hat, dass er in eine tödliche Auseinandersetzung geraten könnte. Yorbenis ist Mitglied der berüchtigten Triberos-Gang und hat eine eigene Waffe. Vor der Kamera berichten Mitglieder der Bande von ihren Überfällen in der Stadt. „Wer sich wehrt, bekommt eine Kugel.“

Die Triberos liefern sich mit den Chatarreros einen erbitterten Bandenkrieg. Yorbenis erzählt davon, dass er jüngst von den Chatarreros fast geschnappt worden sei. Nahezu reglos sitzt er da, den Blick stur auf den Boden gerichtet; nur mit den Beinen zappelt er unmerklich, und die Finger streichen nervös über die Basketball-Shorts: „Wir sind genauso. Wir bringen alle um, die wir kriegen, und fühlen nichts dabei. Wir bringen sie um, ohne nachzudenken. Ich fühle nichts.“

Fast macht sich im Film ein Elendspathos breit. Eingestreute verwackelte Handyaufnahmen von blutigen Schießereien und brutalen Polizeirazzien liefern visuelle Schockeffekte.

Tür an Tür mit den Tätern

„Das Land der verlorenen Kinder“ ist eine deutsche Produktion. Der Dokumentarist Wiese stammt aus Dortmund, der in Kolumbien geborene Cruz ist ein Filmproduzent aus Berlin. Der Film zeigt nicht die Perspektive der Menschen in Santa Rosa. Vielmehr inszeniert er möglichst authentisch wirkende Einblicke von außen. Dabei scheint die Dokumentation so dicht an die Bewohner und Bewohnerinnen des Viertels sowie einige Gang-Mitglieder heranzurücken, als seien die Filmemacher dort zuhause.

Diese Nähe, aus der sich die beklemmende, aufwühlende Kraft des Films speist, ist laut Presseheft Carolina Leal zu verdanken. Leal betreibt innerhalb des Barrio eine Stiftung für soziale Projekte. Unermüdlich versucht sie, den Ärmsten zu helfen: um Mädchen, denen sexuelle Gewalt angetan wird, in Sicherheit zu bringen, Kinder zur Schule zu schicken, medizinische Hilfe zu organisieren oder den Opfern von Polizeigewalt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie ist es auch, die dem Filmteam die Türen ins Viertel öffnet.

Zwar sind immer wieder auch Fragen der Filmcrew bei den Interviews zu hören, doch insgesamt bleibt das Team zumeist im Verborgenen. Es entsteht eher der Eindruck unmittelbaren Miterlebens.

Zu Fuß macht sich die schwangere Kiara mit ihren drei kleinen Kindern auf den beschwerlichen Weg zur kolumbianischen Grenze. Als sie nicht mehr weiterkann, hält sie einen Motorradfahrer an, der sie mitnimmt. Die Kamera folgt ihnen ein ganzes Stück. Das führt zu der Frage, ob das Filmteam der Familie nicht geholfen hat. Hat es nur zugesehen, wie die vier draußen ungeschützt übernachten mussten, ohne Essen und Trinken? Ab welchem Punkt hätten oder haben sie eingegriffen?

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Im Spannungsfeld der Bilder

Solche Fragen werden im Film nicht thematisiert. Stattdessen sprechen Kiara und Carolina in die Kamera wie zu einer guten Freundin, die zu Besuch ist. Ihre Tochter, erklärt Kiara, dürfe nicht zur Schule, weil sie dann nicht mehr betteln könne: „Die Mädchen heiraten, wenn sie elf oder zwölf sind.“ Sie selbst habe schon häufig gestohlen und sich prostituiert, um ihren Kindern etwas zum Essen zu geben. Dafür seien sie ihr aber nicht dankbar. Im Gegenteil. Weil die Kinder mitbekommen hätten, was sie getan habe, würden sie sich auch nicht mehr an Gesetze halten.

Carolina sagt, dass sie ihre Tochter in ein Mädcheninternat gegeben habe, weil sie sonst von den Nachbarn oder ihren Cousins missbraucht worden wäre. Sie habe sich so sehr um die Kinder anderer gekümmert, dass sie ihre eigene Tochter vernachlässigt habe. Carolina kämpft für eine gerechte Justiz. Offen bleibt, wie das mit dem zusammenpasst, dass sie einst selbst zur Anführerin mehrerer Banden aufstieg und gemordet habe.

Gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit von „Das Land der verlorenen Kinder“ im Spannungsfeld von unerbittlicher Wahrhaftigkeit und plakativer Inszenierung erscheinen deshalb durchaus angebracht. Vielleicht dienen die fragwürdigen Details beim überkritischen Betrachten aber auch nur als Ausflucht, um der abgebildeten Wirklichkeit zu entkommen. Denn die erscheint trotz aller Hilfsbemühungen so deprimierend perspektiv- und ausweglos, dass sie kaum zu ertragen ist. (kna)

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Solche Fragen werden im Film nicht thematisiert. Stattdessen sprechen Kiara und Carolina in die Kamera wie zu einer guten Freundin, die zu Besuch ist. Ihre Tochter, erklärt Kiara, dürfe nicht zur Schule, weil sie dann nicht mehr betteln könne: „Die Mädchen heiraten, wenn sie elf oder zwölf sind.“ Sie selbst habe schon häufig gestohlen und sich prostituiert, um ihren Kindern etwas zum Essen zu geben. Dafür seien sie ihr aber nicht dankbar. Im Gegenteil. Weil die Kinder mitbekommen hätten, was sie getan habe, würden sie sich auch nicht mehr an Gesetze halten.

Carolina sagt, dass sie ihre Tochter in ein Mädcheninternat gegeben habe, weil sie sonst von den Nachbarn oder ihren Cousins missbraucht worden wäre. Sie habe sich so sehr um die Kinder anderer gekümmert, dass sie ihre eigene Tochter vernachlässigt habe. Carolina kämpft für eine gerechte Justiz. Offen bleibt, wie das mit dem zusammenpasst, dass sie einst selbst zur Anführerin mehrerer Banden aufstieg und gemordet habe.

Gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit von „Das Land der verlorenen Kinder“ im Spannungsfeld von unerbittlicher Wahrhaftigkeit und plakativer Inszenierung erscheinen deshalb durchaus angebracht. Vielleicht dienen die fragwürdigen Details beim überkritischen Betrachten aber auch nur als Ausflucht, um der abgebildeten Wirklichkeit zu entkommen. Denn die erscheint trotz aller Hilfsbemühungen so deprimierend perspektiv- und ausweglos, dass sie kaum zu ertragen ist. (kna)