Niemand nimmt Arbeitsplätze weg
Podium mit Ministerin Denstädt

„Fachkräfte aus dem Ausland: ja – Recht auf Migration: nein?“ Dieser Frage stellte sich Thüringens Ministerin Doreen Denstädt bei der Podiumsdiskussion des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat in Kooperation mit der Erfurter Bistumsakademie „Katholisches Forum“ und dem „Eichsfeldforum“ im thüringischen Heiligenstadt.

Doreen Denstädt, Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz in Thüringen (Mitte) mit Maria Lourdes Álvarez von der Flüchtlingshilfe des kolumbianischen Bistums Apartadó (links) sowie dem Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Pater Martin Maier (rechts) bei der Podiumsdiskussion „Fachkräfte aus dem Ausland: ja – Recht auf Migration: nein?“. Foto: Titus Lambertz/Adveniat

„Niemand nimmt jemandem den Arbeitsplatz weg.“ Das stellte Doreen Denstädt am Donnerstagabend als Thüringens Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion unmissverständlich fest, die das Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat in Kooperation mit der Erfurter Bistumsakademie „Katholisches Forum“ und dem „Eichsfeldforum“ im thüringischen Heiligenstadt veranstaltet hat. Die Veranstaltung im Rahmen der Eröffnung der bundesweiten Adveniat-Weihnachtsaktion war mit der Frage überschrieben: „Fachkräfte aus dem Ausland: ja – Recht auf Migration: nein?“ Allein in Thüringen gebe es 130.000 bis 150.000 Arbeitsplätze in den kommenden Jahren, die nicht besetzt werden können. „Die Unternehmen haben den Trend längst erkannt und bilden auch Geflüchtete aus, die sich noch im Verfahren befinden.“ Wer jedoch nach der Ausbildung eine Arbeitsstelle antreten will, benötigt zunächst den dauerhaften Aufenthalt oder eine Einbürgerung. Inzwischen sei das Phänomen zu beobachten, dass in Thüringen ausgebildete Pflegekräfte in andere Bundesländer abwandern, weil sie dort schneller anerkannt werden. „Das muss Thüringen schneller hinbekommen“, sagte Ministerin Denstädt.

„Trotz Pisa meinen wir unser Abschlüsse seien besser“

In ganz Deutschland dürfe Integration nicht länger als Einbahnstraße betrachtet werden. „Wer kommt, muss die Sprache lernen, muss sich der Kultur anpassen, muss sich integrieren, muss, muss, muss. – Das funktioniert so nicht. Auch wir müssen uns den Menschen zuwenden, auf sie zugehen, wenn wir die Menschen nicht verlieren wollen“, mahnte Doreen Denstädt.

Ein Umdenken forderte die Ministerin auch in Bezug auf die Anerkennung von Abschlüssen in anderen Ländern. „Trotz Pisa meinen wir immer noch, unsere Abschlüsse seien besser als anderswo. Das stimmt nicht.“ Auch in Afrika und Lateinamerika gebe es gleichwertige, ja teils bessere Berufsausbildungen und Bildungsabschlüsse. Bislang sei das Ausländerrecht darauf ausgerichtet, die deutsche Wirtschaft vor ausländischem Einfluss abzuschotten. Dazu gehörten eben auch ausländische Arbeitskräften in Unternehmen. „Wir sind da gerade an einem ganzheitlichen Systemwechsel, dem sogenannten Spurwechsel“, warb Ministerin Denstädt auch für Anerkennung für die aktuellen politischen Bemühungen.

Der Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Pater Martin Maier hatte zuvor der Politik vorgeworfen, dass sie den lange angekündigten „demografischen Winter“ verschlafen habe:

„Seit Jahren spricht die Bundesagentur für Arbeit davon, dass Deutschland pro Jahr 400.000 Zuwanderer braucht, um dem Mangel an Arbeitskräften zu begegnen.“ Angesichts der sich mehrenden Berichte, dass angeworbene ausländische Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurückkehren, weil sie in Deutschland auf Ablehnung und ein Klima der Ausgrenzung stoßen, kritisierte Pater Maier zudem die generelle Haltung in der Debatte in Deutschland: „Wir reduzieren nach wie vor Menschen auf ihre Arbeitskraft und fragen allein danach, was es uns bringt.“ Wer Arbeitskräfte aus anderen Ländern anwerbe, müsse für sie auch Verantwortung übernehmen.

Pater Martin Maier ist Adveniat-Haupgeschäftsführer. Foto: Peter Weidemann

„Allzu oft sorgen wir für einen regelrechten Brain-Drain“

Grundsätzlich, so der Leiter des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, sei nichts dagegen einzuwenden, wenn Deutschland Menschen, die in ihren Heimatländern keine Anstellung finden, beispielsweise im Bereich der Pflege ein Arbeitsangebot unterbreite. In Brasilien sei ihm etwa bei seinem Aufenthalt Anfang November signalisiert worden, dass Pflegerinnen und Pfleger Arbeitsmöglichkeiten im Ausland suchen, weil offene Stellen dort Mangelware sind. „Doch allzu oft sorgen wir für einen regelrechten „Brain-Drain“, weil wir den Ländern des globalen Südens qualifizierte, gut ausgebildete Menschen entziehen, die ihre Herkunftsländer voranbringen könnten.“ Pater Maier kritisierte die mangelnde Bereitschaft in den nördlichen Industrieländern, die Menschen aus- oder weiterzubilden, die als Migrantinnen und Migranten beispielsweise in Europa eine Zukunftsperspektive für sich und ihre Familien suchen. „Als Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat setzen wir uns dafür ein, dass wir Fachkräfte aus dem Ausland nur anwerben, wenn sie in ihren Ländern tatsächlich keine berufliche Perspektive haben und wir sie als Menschen bei uns aufnehmen und integrieren“, stellte Pater Maier fest. Für den Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat braucht es gleichzeitig ein Recht auf Migration. „Denn jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und dazu gehört auch das Recht auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe“, so Pater Maier.

„Migrantinnen und Migranten machen sich auf den Weg, weil sie ein Leben in Würde suchen, weil sie auf Zukunftsperspektiven für sich und ihre Familien hoffen“, erläuterte Maria Lourdes Álvarez von der Flüchtlingshilfe des kolumbianischen Bistums Apartadó.

Maria Lourdes Álvarez arbeitet mit Flüchtenden in Kolumbien. Foto: Peter Weidemann.

Sie arbeitet mit und für die Migrantinnen und Migranten auf einer der meist frequentierten und gleichzeitig gefährlichsten Fluchtrouten der Welt, dem sogenannten Darién-Gap. Zwischen Kolumbien und Panama gibt es keinerlei Wege oder Straßen, um von Südamerika nach Mittelamerika oder weiter in die USA zu gelangen. Fast 500.000 Menschen – 2019 waren es noch 20.000 – aus Venezuela, Ecuador, Haiti, aber auch aus afrikanischen und asiatischen Ländern haben sich in diesem Jahr dennoch zu Fuß auf den Weg durch diesen lebensgefährlichen Dschungel gemacht.

Die Migrantinnen und Migranten sind vielen Risiken ausgesetzt: Vergewaltigungen, Raubüberfällen, Diebstählen, Menschenhandel, Verschleppung durch die Verbrecherbanden, die Migration für sich längst zum lukrativen Geschäft gemacht haben.

„Es ist schmerzhaft und traumatisch zu erleben, wie die Menschen auf dem Weg ihre Träume und Hoffnungen angesichts so vieler menschlicher Erniedrigungen verlieren oder schon verloren haben“, berichtete Maria Lourdes Álvarez.

„Als Kirche ist es unsere Aufgabe, den Menschen zu helfen, sie mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen und sichere Herbergen auf den gefährlichen Routen anzubieten. Wir unterstützen sie aber auch dabei, ihre Rechte gegenüber den Behörden durchzusetzen und bieten ihnen Perspektiven für einen Neuanfang.“

Adveniat Weihnachtsaktion 2023

Flucht trennt. Hilfe verbindet

Einer von fünf Migrantinnen und Migranten weltweit kommt aus Lateinamerika. Verfolgung, Gewalt und Hunger zwingen Menschen ihre Heimat zu verlassen. Schwerpunktländer sind Kolumbien, Panama und Guatemala, anhand welcher die unterschiedlichen Aspekte von Flüchtlingshilfe dargestellt werden. Die Eröffnung der bundesweiten Adveniat-Weihnachtsaktion fand am 1. Advent, dem 3. Dezember 2023, im Bistum Erfurt statt.