Gewaltausbruch in Ecuador:
Besonders dramatisch für die Ärmsten
Die Geiselnahme in einem Fernsehstudio bei laufender Kamera ist vorläufiger Höhepunkt der aktuellen Gewalteskalation in Ecuador. Warum das einst so friedliche Land im Chaos versinkt, erklärt der Leiter des Bereichs Ausland des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Thomas Wieland im Interview mit dem Domradio.
Symbolbild: Polizei und Militär beherrschen in den Großstädten Ecuadors das Straßenbild, nachdem bewaffnete ein Fernsehstudio gestürmt und Geiseln genommen hatten. Foto: Florian Kopp/Adveniat
Ecuador galt lange als politisch und wirtschaftlich stabil. Heute ist die Mordrate dort eine der höchsten auf dem Kontinent. Im vergangenen August wurde der Präsidentschaftskandidat Villavicencio auf offener Straße ermordet. Jetzt stürmten bewaffnete Männer in der Stadt Guayaquil ein Fernsehstudio bei laufender Kamera und nahmen die dort Journalisten als Geiseln. Wieso ist die Situation gekippt?
Thomas Wieland: Bereits 2019 gab es breite Proteste gegen die Korruption im Land, die Regierung reagierte damals mit der Verhängung des Ausnahmezustands und gewaltsamen Repressionen. Verschlimmert wurde die Situation durch die Corona-Pandemie, die die Armut noch größer gemacht hat.
Gleichzeitig wird die Gewalt im Land von den Drogenkartellen angeheizt. Ecuador liegt zwischen Peru und Kolumbien, zwei der größten Drogenanbaugebiete weltweit. In Mexiko expandieren die Kartelle und in Kolumbien haben sich nach dem Friedensprozess dort, wo früher die FARC dominierte, Splittergruppen angesiedelt, die sich durch den Drogenanbau finanzieren. Sie beliefern Ecuador und haben ein Interesse daran, das Land zu destabilisieren, um freie Wege für ihren Handel zu bekommen. Deshalb befeuern sie die Gewalt in Ecuador von außen.
Diese Drogen sind vor allem für den europäischen Markt. Deswegen konzentriert sich die Gewalt auf die Pazifikregion und die Hafenstadt Guayaquil. Von dort aus transportieren Schiffe die Drogen vor allem nach Belgien, von wo aus sie in ganz Europa verteilt werden. Die Absatzmärkte in Europa sind enorm gewachsen.
„Da sind Milliardenbeträge im Spiel.“
Und Ecuadors Regierung ist zu schwach, um das zu unterbinden?
Wieland: Es gibt eine zunehmende Infiltration durch die Drogenkartelle. Ein LKW-Fahrer bekommt beispielsweise für den Transport einer Ladung Kokain gut 100.000 Dollar, da sind Milliardenbeträge im Spiel.
Auf der anderen Seite riskieren zum Beispiel Beamte der Hafenverwaltung, die nicht kollaborieren, ihr Leben. So unterwandern die Kartelle die Regierungsmacht. Das ist schwer zu unterbinden. Die Vorgängerregierung unter Guillermo Lasso hat ungefähr 20 Mal den Ausnahmezustand verhängt. Aber das hat die Situation nicht verbessert.
Thomas Wieland leitet den Bereich Ausland bei Adveniat. Foto: Martin Steffen
„Besonders dramatisch ist die Lage für die Ärmsten.“
Adveniat unterstützt zahlreiche Hilfsprojekte in Ecuador. Sie stehen im engen Austausch mit Ihren Partnern vor Ort. Was berichten die Ihnen von der aktuellen Lage?
Wieland: Viele sind in großer Sorge. Die Menschen bleiben zu Hause. Die Regierung hat eine Homeoffice-Pflicht verhängt, in Schulen und Universitäten findet kein Unterricht statt, nachts herrscht Ausgangssperre. Das prägt das ganze Land, obwohl sich die Gewalt vor allem auf die Hafenstadt Guayaquil konzentriert. Dort hat man mir von regelrechten Straßenkampfsituationen berichtet, in Universitäten und vor Supermärkten. Menschen werden auf offener Straße erschossen. Das müssen bürgerkriegsähnliche Zustände sein.
Nachdem Präsident Daniel Noboa am 8. Januar den Ausnahmezustand verhängt hat, hat er jetzt den Kriegszustand ausgerufen. Es gibt Straßenblockaden der Militärs und die Nationalpolizei ist unterwegs.
Besonders dramatisch ist die Lage für die Ärmsten, die auf der Straße Essen verkaufen oder sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten. Denen fehlt jetzt das Einkommen.
Wie äußert sich die katholische Kirche in Ecuador zu der Lage?
Wieland: Es gibt eine recht kurze Stellungnahme der ecuadorianischen Bischofskonferenz, die vor Panik warnt und zu Einheit und Frieden im Land aufruft. Die Bischöfe fordern die Menschen dazu auf, zusammenzustehen, denn Gewalt, egal von welcher Seite, spiele den Drogenkartellen in die Hände.
Präsident Noboa ist seit Ende November 2023 im Amt. Er ist ein Mitte-Rechts-Politiker und stammt aus einer reichen Unternehmerfamilie. Wie schätzen Sie ihn ein? Ist er in der Lage, die Situation in Ecuador zu befrieden?
Wieland: Noboa setzt alle Mittel ein, die ihm zur Verfügung stehen: Das Kriegsrecht, der Einsatz der Militärs im Inneren, die Einstufung von 20 Gruppen als „terroristische Vereinigung“, gegen die er mit Gewalt vorgehen lässt. Das Parlament und sämtliche Parteien stehen hinter ihm und unterstützen seine Maßnahmen.
Er ist gerade einmal 50 Tage im Amt und ihm bleiben auch nur eineinhalb Jahre, weil er Interimspräsident ist, der aus den vorgezogenen Wahlen im vergangenen Jahr hervorgegangen ist.
„Die Menschen brauchen ein Einkommen, von dem sie leben können und ein soziales Netz.“
Ist das denn zu schaffen? Wie blicken Sie auf die Zukunft Ecuadors?
Wieland: Natürlich muss Noboa jetzt klare Antworten auf die Angriffe auf die Bevölkerung liefern. Aber ich bin überzeugt, dass Gewalt nicht die einzige Lösung sein kann.
Adveniat setzt auf die Stärkung der Zivilgesellschaft. Wir kennen solche Situationen von unseren Projekten in Kolumbien und Mexiko und wir beobachten immer wieder, dass die bewaffneten Akteure in der Regel junge Menschen, zum Teil Minderjährige, sind. Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht rekrutiert werden und darauf setzen wir mit unserer Arbeit: Die Menschen brauchen ein Einkommen, von dem sie leben können und ein soziales Netz.
Unsere Erfahrung ist: Wenn die jungen Menschen Anschluss an eine Familie, Gemeinde oder Gemeinschaft haben, wenn das soziale Gefüge funktioniert, haben die bewaffneten Banden keine Chance. Das ist das einzige, was langfristig wirkt. Das kann Kirche durch ihre Präsenz in allen Teilen der Gesellschaft entscheidend unterstützen.
Wir wollen, dass sich die Menschen begegnen und eine andere Kultur als die der Gewalt erfahren. Darin sehe ich die Zukunft Ecuadors.
Das Interview führte Ina Rottscheidt vom Domradio.