Enrique Angelelli:
Ein Hirte aus der Arbeiterjugend
Das II. Vatikanische Konzil neigte sich seinem Ende entgegen. Drei Jahre lang hatten die Konzilsväter miteinander beraten, jetzt trafen sich, am 16. November 1965, 40 Bischöfe in den Domitilla-Katakomben in Rom und unterzeichneten eine Selbstverpflichtung: Sie wollten fortan selbst arm leben, sich den Armen und Benachteiligten zuwenden und jeden Eindruck vermeiden, Reiche und Mächtige zu bevorzugen. „Das Gleiche“, so heißt es, „wollen wir bei den Verantwortlichen unserer Regierungen durchsetzen“. Einer der Unterzeichner des Katakombenpaktes für eine dienende und arme Kirche war Enrique Ángel Angelelli, Weihbischof des Erzbistums Córdoba in Argentinien.
Am 17. Juni 1923 wurde Angelelli in Córdoba als erster Sohn italienischer Einwanderer geboren. Mit 15 Jahren trat Enrique Angelelli in das kleine Seminar Nuestra Señora de Loreto ein. Seine Eltern waren Kleinbauern und es heißt, sie hätten die Habseligkeiten des Sohnes in jenem Gemüsekarren zum Seminar transportiert, mit dem sie sonst ihre Erzeugnisse zum Markt brachten. Der Erzbischof von Córdoba schickte den begabten jungen Mann 1947 nach Rom, wo er am päpstlichen Colegio Pío Latino Americano studierte und mit 26 Jahren zum Priester geweiht wurde. Weitere Studien in kanonischem Recht in Rom schlossen sich an, ehe er nach Argentinien zurückkehrte und als Vikar in einer Pfarrei und Kaplan der katholischen Arbeiterjugend (JOC) in Córdoba zu arbeiten begann.
Während seiner Studien in Rom hatte Angelelli den Gründer der Arbeiterjugend, José Cardijn, kennengelernt, dessen Ideen er jetzt, als Verantwortlicher für die JOC im Erzbistum, umsetzen konnte. Die Kapelle Cristo Obrero und das Wohnhaus Angelellis wurden zu regelmäßigen Treffpunkten für junge Arbeiter und Studenten. 1960 ernannte ihn Papst Johannes XXIII. zum Weihbischof des Erzbistums Córdoba, kurze Zeit später übernahm er auch die Aufgabe des Generalvikars. Selbst in „Amt und Würden“, zog es ihn immer mehr in die Armenviertel Córdobas, wo er ungerechte Strukturen und Armut – vor allem der Arbeiter – hautnah erlebte.
Historisches Foto von Enrique Ángel Angelelli im Archiv der Kathedrale in la Rioja: Der Bischof reiste bescheiden mit einem Maultierkarren oder ging zu Fuß in die entlegenen Landgemeinden seines Bistums.
„Ein Ohr am Evangelium, ein Ohr beim Volk“
1968 wurde Angelelli zum Bischof von La Rioja ernannt, einer Provinz im Nordwesten Argentiniens. Er sei gekommen, um den Armen, Hungernden und nach Gerechtigkeit Dürstenden zu dienen, betonte er in seiner ersten Predigt. Und in seiner ersten Botschaft an die Gläubigen der Diözese umriss er sein Grundverständnis von Pastoral mit jenen Worten, die bis heute für sein Leben und Wirken stehen: „Ein Ohr am Evangelium, ein Ohr beim Volk und beiden treu bleiben!“
Die Botschaft traf den Nerv der Zeit: La Rioja war geprägt von der Herrschaft weniger Familien in nahezu feudaler Struktur. Breite Schichten der Bevölkerung litten Not, obwohl sie hart arbeiteten. Angelelli erhob mutig sein Wort, predigte gegen Unterdrückung, Folter, Hunger und Armut. Er hörte den Menschen zu, nahm sogar ihre Aussagen auf Tonband auf, um sie in seinen Predigten nutzen zu können.
Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten: 1971 wurde die Rundfunkübertragung der Sonntagspredigten des Bischofs von der regionalen Regierung der Provinz Córdoba verboten, kurze Zeit später erfolgte ein Verbot für Veröffentlichungen in der Tageszeitung der Region. Eine mediale Verleumdungskampagne gegen den Bischof, in welcher er als subversiv, als Guerillero, Kommunist und Drogenhändler bezeichnet wurde, prasselte, angeführt von der Vereinigung Cruzada de la Fe (Kreuzzug des Glaubens), auf ihn nieder.
Historisches Foto von Enrique Ángel Angelelli im Archiv der Kathedrale in la Rioja. Angelleli führte Interviews mit den Menschen.
Es waren der Tod Peróns 1974 und die de-facto-Machtübernahme durch Minister López de Rega, die das ohnehin schon angespannte Klima in Argentinien nochmals verschärften. López de Rega installierte die „Triple A“, die Alianza Anticomunista Argentina, eine paramilitärische Gruppe, die in der Folgezeit für willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Folter und Morde verantwortlich war. Im März 1976 putschte sich schließlich das Militär und an die Macht.
Zahlreiche Mordanschläge auf engagierte Katholiken
Am 18. Juli wurden die Priester Carlos de Dios Murias und Gabriel Longueville, ein aus Frankreich stammender Missionar, in El Chamical ermordet. In El Chamical war eine Luftwaffeneinheit stationiert, und bei einem Besuch Angelellis dort hatte der Militärseelsorger geäußert, das Volk habe Sünden begangen, die nur mit Blut gesühnt werden könnten. Der Chef der Luftwaffeneinheit hatte Angelellis Predigt unterbrochen mit dem Ruf „Sie machen hier Politik!“ und ihm anschließend verboten, noch einmal das Gelände zu betreten.
Obwohl es zahlreiche Mordanschläge auf Priester, Ordensleute, Seminaristen und engagierte Katholiken gegeben hatte, gingen die Bischöfe Argentiniens in ihrem „Hirtenbrief über die Nationale Wirklichkeit“ vom 15. Mai 1976 nicht explizit darauf ein und bezeichneten stattdessen die willkürlichen Verhaftungen oder die politische Subversion als „Irrtümer“. Erst ein Jahr später, im Mai 1977 und damit nach der Ermordung, dem Verschwinden und der Ausweisung zahlreicher weiterer Priester und Ordensleute, sprachen die Bischöfe deutlicher und prangerten lange Haftzeiten ohne Verfahren, Folterungen, die Entführungen und die Praxis des Verschwindenlassens an.
Gedenkkapelle Enrique Ángel Angelellis am Todesort bei Punta de los Llanos.
„Töte den Hirten, und die Schafe zerstreuen sich“
Es war diese Situation, in der die Morde in El Chamical und Sanagosta (drei Tage später wurde dort der Diözesanleiter der JOC ermordet), geschahen. Enrique Angelelli wusste, dass es auch für ihn lebensgefährlich wurde: „Töte den Hirten, und die Schafe zerstreuen sich“, hatte er das Evangelium zitiert, um zu beschreiben, was seine Gegner im Sinn hatten. Im Februar war der Generalvikar der Diözese La Rioja verhaftet worden, weitere Verhaftungen einzelner Priester folgten. Dennoch veröffentlichten die Priester und der Bischof zu Ostern 1976 eine Botschaft, in der sie betonten, in Fragen der Gerechtigkeit auch weiterhin nicht schweigen zu wollen.
Bischof Angelelli machte sich auf den Weg nach El Chamical, um einen Gottesdienst für die ermordeten Priester zu feiern – und um mehr über die Umstände ihres Todes zu erfahren. In der Predigt, die seine letzte werden sollte, sagte er, er kenne die wahren Drahtzieher dieser Morde. Auf der Rückfahrt folgten zwei Fahrzeuge dem Auto des Bischofs und drängten es von der Straße ab. Der Wagen überschlug sich, der Bischof starb noch an der Unfallstelle. Alle Unterlagen, die er bei sich führte, verschwanden.
Für Papst Franziskus ist Angelelli längst ein Märtyrer
Von staatlicher wie kirchlicher Seite wurde die Version eines Unfalls aufgrund eines geplatzten Reifens verbreitet. Erst 1986 urteilte ein argentinischer Richter, der Tod Angelellis sei ein „kaltblütig geplanter Mord“ gewesen. Im Jahr 2006 erklärte die Argentinische Bischofskonferenz ihre Bereitschaft, an der Aufklärung der Umstände des Todes mitzuarbeiten: Erzbischof Bergoglio, der spätere Papst Franziskus, setzte eine Kommission Ne pereant probationes (Damit die Beweise nicht verlorengehen) ein. 2014, 38 Jahre nach dem Mord, erfolgte die Verurteilung zweier Militärs zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Das Bistum La Rioja bereitet derzeit den Antrag zur Einleitung des Seligsprechungsverfahrens vor. Für Papst Franziskus ist Angelelli längst ein Märtyrer: In seiner Predigt in der Kathedrale von La Rioja aus Anlass des 30. Todestages des Bischofs im Jahr 2006, sagte der damalige Kardinal Bergoglio, Angelelli und die anderen Ermordeten von La Rioja hätten ihr Blut für die Kirche vergossen.
Text: Christian Frevel
Gedenktafel von Enrique Ángel Angelelli am Todesort bei Punta de los Llanos: Ein Ohr am Evangelium, das andere am Volk.