„Ein tanzendes Kind ist ein Zeichen des Friedens“

Sie haben Freunde bei Schießereien verloren. Und doch bauen sich Jugendliche in der von Gewalt geprägten kolumbianischen Stadt Tumaco ein selbstbestimmtes Leben auf.

Edwin Narváez leitet die Jugend- und Firmgruppe im Centro Afro. Foto: Adveniat/Mareille Landau

Ein sicherer Ort inmitten der Gewalt

Seine dunkelgrauen Plastiklatschen tragen ihn vorbei an Holzhütten mit Wellblechdach, unverputzten Backsteinhäusern mit Holztüren, Motorrädern, Schutt und Pfützen im Matsch, über die Bretter führen. Dann erreicht Edwin Narváez die einzige gepflasterte Straße des Viertels – und sein Ziel: das Jugendzentrum „Centro Afro“. „Der Ort, an dem ich sicher bin und mich wohlfühle. Der Ort, an dem meine Talente entdeckt und gefördert werden“, erzählt der 19-Jährige, während er das Tor im hohen Maschendrahtzaun aufschließt. Sofort drängeln sich drei Kinder an ihm vorbei und stürmen lachend auf die Rasenfläche hinter dem bunt bemalten Gebäude. Mit einem gelösten Lächeln auf dem Gesicht sagt er: „Hier öffnen sich uns Türen. Uns, die wir aus einem der ärmsten Viertel von Tumaco kommen, aus Nuevo Milenio.“

Ganz im Südwesten Kolumbiens, direkt am Pazifik, unweit der Grenze zu Ecuador liegt die kolumbianische Kleinstadt Tumaco mit rund 250.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. 95 Prozent der Menschen sind afrokolumbianischer Herkunft, stammen also aus Familien, deren Vorfahren einst als Sklaven aus Afrika nach Kolumbien verschleppt wurden. 15 Prozent leben in extremer Armut. Die Einwohnerinnen und Einwohner verteilen sich auf zwei Inseln und dem Delta. Dort liegt das Viertel Nuevo Milenio mit dem Centro Afro – einer der ärmsten Stadtteile. Rund 10.000 Menschen wohnen hier, viele in Holzhütten, die auf Holzpfählen über dem graubraunen, von Müll und Schlieren durchzogenen Wasser errichtet sind.

Im Centro Afro fühlt Edwin Narváez sich sicher. Foto: Adveniat/ Mareille Landau

Wie Edwins Eltern kommen die meisten aus dem Landesinneren und sind vor den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden, Guerilla und Paramilitärs geflohen. Doch auch Tumaco ist nicht sicher. Seit über zehn Jahren zählt es zu den gewalttätigsten Städten Kolumbiens. Denn Tumaco besitzt den wichtigsten Pazifikhafen und eine der größten Koka-Produktionen des Landes, dem Ausgangsprodukt für Kokain.

„Ich habe meinen besten Freund bei einem Schusswechsel verloren. Er hatte nichts mit den Gangs zu tun, wir haben nur am Wasser gespielt“, erzählt Edwin Narváez. Seit anderthalb Jahren ist es ruhiger geworden im Viertel Nuevo Milenio, nicht jeden Morgen sind neue Tote zu beklagen. „Das bedeutet aber nur, es werden nicht mehr so viele Unschuldige getötet. Immerhin“, erklärt die 20-jährige Eva Preciado. Sie hat ihren Bruder verloren, der sich den Gangs angeschlossen hatte. „In Nuevo Milenio lebst du nur mit einer Sicherheit: Eines Tages werden sie dich ermorden“, sagt sie und blickt in eine unsichtbare Ferne. „Ich habe mich an die Angst gewöhnt und versuche, sie nicht gewinnen zu lassen, ganz normal zu leben. Aber das ist sehr sehr schwierig.“

Stark sein und doch sensibel

Im Centro Afro haben Eva Preciado und Edwin Narváez gelernt, über ihre Ängste und Sorgen zu reden. Sie haben sich und weitere Jugendliche gefunden, die gleiches erlebt haben und sich nicht damit abfinden wollen. Unterstützt werden sie von engagierten Mitarbeiterinnen wie Diana Quiñónez. Die ausgebildete Tänzerin arbeitet seit acht Jahren im Jugendzentrum und bietet körperliche Aktivitäten wie Akrobatik und Tanzen für die Jugendlichen an. „Wir drücken über unseren Körper alles aus: die Frustration, die Aggressionen, den Schmerz. Ich möchte ihnen zeigen, dass man stark sein kann und doch sensibel,“ sagt die Sozialarbeiterin, die immer bunt gekleidet ist und voller Energie steckt. „Dabei helfen Kunst, Zusammenhalt, Respekt, Kommunikation. Das ist schwierige Arbeit, körperlich und mental. Doch ein tanzendes Kind ist ein Zeichen des Friedens.“ Obwohl sie Arbeitsangebote aus dem ganzen Land bekommen hat, möchte sie in ihrer Heimat Tumaco bleiben. Wegen der Jugendlichen, die ins Jugendzentrum kommen. Diana Quiñónez will sie dabei unterstützen, anders zu denken und etwas zu verändern.

Beim Tanzen lernen die Jugendlichen ihre Gefühle auszudrücken. Foto: Adveniat/ Mareille Landau

Das Ziel des Centro Afro ist, dass die Jugendlichen reflektieren, hinterfragen und sich selbst einbringen. Alles auf der Basis von Vertrauen, Beständigkeit, Aufmerksamkeit. Werte, die viele Jugendliche nie erlebt haben. „Mir wurde oft gesagt, ich dürfe nicht so emotional sein. Ich soll keine starke Bindung zu Menschen aufbauen – nicht einmal zu Familienmitgliedern, da sie jederzeit ermordet werden könnten. Aber ich kann einfach nicht anders“, sagt Eva Preciado und wendet sich ab. Viele Eltern halten ihre Kinder emotional auf Distanz oder sperren sie zu Hause ein. Viele Mütter leben in ständiger Angst vor der Todesnachricht. In dieser Atmosphäre ist es für die Jugendlichen schwierig, sich als Person zu entwickeln, eigene Erfahrungen zu machen, selbstständige Entscheidungen zu treffen. Fehler werden in Tumaco mit dem Tod bestraft. „Zu den bewaffneten Gruppen hier gehören keine Frauen. Aber du kannst dich in einen von ihnen verlieben. Und dann bist du mittendrin im schlechten Leben“, erzählt Eva Preciado, die in einem Supermarkt jobbt. „Ich hatte viele Freundinnen, denen das passiert ist. Sie wurden früh Mütter, alleinerziehend. Oder sie werden psychisch, physisch und verbal misshandelt – und haben sich daran gewöhnt.“

„Hier öffnen sich uns Türen. Uns, die wir aus einem der ärmsten Viertel von Tumaco kommen, aus Nuevo Milenio.“

Edwin Narváez, Jugendgruppenleiter im Centro Afro

Damit Tumaco ein besserer Ort wird

Tumaco einfach verlassen? Darüber nachgedacht haben Eva und Edwin schon oft, aber es immer wieder verworfen. „Ich habe gelernt, positive und negative Gedanken zuzulassen und zu verarbeiten. Jetzt möchte ich alles dafür tun, dass sich die Geschichten von Gewalt und Morden nicht wiederholen, dass Tumaco ein besserer Ort wird“, sagt Edwin Narváez und ist schon tatkräftig dabei. Im Centro Afro leitet er die Jugendgruppe, bei der auch Eva Preciado Mitglied ist. Sie diskutieren über Politik und Werte und engagieren sich sozial im Viertel. Das Vertrauen, das ihm durch diese Aufgabe entgegengebracht wurde, hat Edwin Narváez motiviert. Er möchte studieren. So wie sein Bruder, der auch im Centro Afro war und zur ersten Generation von Studierenden aus Nuevo Milenio gehört. Edwin Narváez, der gerade die Schule beendet hat, möchte Sozialarbeiter werden, und in Tumaco Jugendlichen den Weg in eine gute Zukunft zeigen.

Text: Christina Weise; Fotos: Mareille Landau

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„Glaubt an uns – bis wir es tun!“

Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik erleben täglich Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Viele haben die Hoffnung auf eine sichere und gute Zukunft verloren. Adveniat und die lokalen Projektpartnerinnen und –partner glauben jedoch an sie und schaffen sichere Orte, wo Jugendliche Perspektiven entwickeln können. Kunst- und Kulturangebote, Workshops und Stipendien ermöglichen ihnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und Kirche und Gesellschaft aktiv zu gestalten.