Polizeirazzia in Rios Armenvierteln fordert 132 Tote
Am Dienstag eskalierte eine Polizeirazzia zu stundenlangen Feuergefechten mit Mitgliedern von Drogenbanden. Anwohner kritisieren das Vorgehen der Polizei als grausam.

“Claudio Castro Terrorist Mörder” – die Anwohner kritisieren den Gouverneur und die Polizei. Foto: ZUMA Press Wire/ Reuters
Brasiliens Metropole Rio de Janeiro ist wieder einmal Ort erschreckender Gewaltexzesse geworden. Zwölf Stunden lang tobten am Dienstag Feuergefechte zwischen Polizeieinheiten und Mitgliedern des Drogenkartells Comando Vermelho in den beiden Armenvierteln Complexo do Alemão und Complexo da Penha im Norden der Stadt. Dabei sollen 132 Menschen ums Leben gekommen sein.
Bei früheren gewaltsamen Auseinandersetzungen hatte die Adveniat-Partnerin Regina Leão bereits festgestellt: „Wir erleben einen Massenmord an unserer Jugend.“ Denn ein Großteil der Gewaltopfer jedes Jahr sind schwarze Jugendliche. Seit 28 Jahren arbeitet sie für die Pastoral für gefährdete Minderjährige des Erzbistums Rio de Janeiro, die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Das Erzbistum betreibt ein Sozial- und Bildungszentrum, in dem Jugendliche ihre Zeit in Sicherheit verbringen können und an dem sie geschützt sind vor dem Einfluss der Drogenbanden. Wo der Staat versagt, springt das Zentrum ein, bietet Kindern und Jugendlichen Nachhilfe und ein umfangreiches Freizeitangebot sowie Kurse für Berufseinsteiger, um den Jugendlichen eine Alternative zu den Drogenbanden und einen Ausstieg aus der Spirale der Gewalt zu bieten.

Im Zentrums können Kinder aus der umliegenden Favela Sport treiben, etwas essen und Hilfe bei Ausbildung und Schule erhalten. Foto: Adveniat/Martin Steffen
Am Dienstagmorgen hatten rund 2.500 Polizisten versucht, Dutzende Haftbefehle gegen Mitglieder von Drogenbanden zu vollstrecken. Dabei stießen sie auf massive Gegenwehr und Straßensperren. Verzweifelt versuchten viele Menschen, sich in Sicherheit zu bringen.
Bis Mittwochmorgen hatten die Anwohner des Armenviertels Penha duzende Leichen aus einem angrenzenden Waldstück geborgen. Verzweifelte Angehörige versuchten unter den auf einem zentralen Platz des Viertels aufgereihten Leichen, ihre Söhne und Männer zu identifizieren. Einige Leichen sollen nach Angaben der Anwohner grausame Spuren aufgewiesen haben, wie auf dem Rücken gefesselte Hände und Schusswunden im Genick oder in der Stirn. Die Angehörigen beschimpften die Polizei und Rios Gouverneur Cláudio Castro als Mörder.
Insgesamt wurden in dem Waldstück 57 Leichen geborgen, womit die ursprünglich von der Polizei mit 60 angegebene Zahl der Todesopfer auf insgesamt 132 stieg. Die Polizei gab an, die Kriminellen in das Waldstück abgedrängt zu haben, um das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen. Experten schätzen, dass die Bande Comando Vermelho in der Region rund eintausend bewaffnete Mitglieder hatte.
Richtlinien für Polizeirazzien
Gouverneur Cláudio Castro feierte die Polizeiaktion als Erfolg. Als Opfer wolle er lediglich die vier getöteten Polizisten bezeichnen, erklärte der Gouverneur. Castro kritisierte Brasiliens Oberstes Gericht dafür, dass es 2019 strenge Regeln für Polizeirazzien in den Armenvierteln angeordnet hatte. Das Gericht hatte damals auf die massive Polizeigewalt in den Armenvierteln reagiert. Experten glauben, dass die Polizei mit der Razzia gegen diese Richtlinien verstoßen hat. Den Handlungsspielraum der Polizei einzuschränken, fördere laut Gouverneur Castro jedoch die Ausbreitung des organisierten Verbrechens in Rio de Janeiro.
Präsident Lula kündigte an, gemeinsam mit Rios Regierung für mehr Sicherheit sorgen zu wollen. „Wir brauchen koordinierte Maßnahmen, die das Rückgrat des Drogenhandels ins Visier nehmen, ohne unschuldige Polizisten, Kinder und Familien zu gefährden“, erklärte Lula am Mittwochabend. So soll mit Hilfe eines neuen Sicherheitsgesetzes die Koordination der Polizeiarbeit verbessert werden. Lula und der Gouverneur sind politische Gegner.
“Dies war eine Missachtung des Völkerrechts”
Rio de Janeiros Erzbischof drückte in einem am Dienstag veröffentlichten Schreiben seine Solidarität mit den betroffenen Familien aus. „Die Gewalt und die Angst hat das Herz unserer Stadt verletzt und vielen Familien ihren Frieden geraubt“, schreibt Orani João Kardinal Tempesta. „Selbst im Angesicht des Chaos glaube ich fest daran, dass die Liebe und das Gute stärker sind als jedwede Gewalt. Und ich bitte jeden einzelnen, dass er ein Werkzeug dieses Friedens ist.“
Deutliche Worte fand Amnesty International Brasilien. Direktorin Jurema Werneck zufolge ermutige Gouverneur Castro mit seinen Aussagen rechtswidriges Handeln der Polizeikräfte. Castro und die Sicherheitskräfte wüssten, dass die Polizeirazzia gegen die Anordnungen des Obersten Gerichts verstieß und deshalb illegal war. „Dies war eine Missachtung des Völkerrechts, der Menschenrechte, der Verfassung und aller brasilianischen Gesetze.“
Text: Thomas Milz/ Red.

