„Bis wir an uns selbst glauben“

Im kolumbianischen Tumaco, wo die Gewalt regiert und Jugendliche niemandem trauen können, hat Ulrike Purrer, unterstützt vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, ein Zentrum des Friedens aufgebaut.

Jailer Cortés und Ulrike Purrer im Gespräch. Foto: Adveniat/Mareille Landau

Ein Steg zwischen Holzhütten auf Stelzen mit Wellblechdach über einer Mischung aus Müll, Ästen, Brackwasser. Keine Müllabfuhr, keine Kanalisation, keine Staatsgewalt, keine Privatsphäre, kaum Strom. Dafür Anspannung, Hunger, Gewalt. In einer dieser Hütten lebt Jailer Cortés mit seinen Großeltern. Um den Gasherd in der Mitte tummeln sich Küken. Jailers Großmutter – über 80 Jahre alt, mager, traurige Augen – rührt in einem Topf mit Resten von Innereien und Salzwasser. Ohne dieses Geschenk der Nachbarn müssten sie hungern. „Meine Familie macht eine sehr schwierige Phase durch“, sagt Jailer Cortés und blickt zu Boden. Er drückt seiner Oma die Hand und schenkt ihr ein Lächeln zum Abschied. Dann balanciert er, den morschen Holzbrettern ausweichend, bis zur Tür. Eine Mischung aus Schuld und Vorfreude begleiten ihn über den langen Steg, der ihn mit seinen Nachbarn verbindet.

Eine Nachbarschaft voller Waffen und Gewalt. „Hinter mir liegen die Hütten, in denen sie foltern“, erklärt Jailer Cortés. „Sie“ sind die Gangs, die in der Kleinstadt Tumaco das Sagen haben, vor allem hier, in „Nuevo Milenio“, einem der ärmsten Stadtteile. Der Pazifikhafen in Verbindung mit einem der größten Anbaugebiete für Koka, dem Ausgangsprodukt für Kokain, hat einen florierenden Drogenhandel und eine der höchsten Mord- und Gewaltraten des Landes zur Folge. Dabei ist es seit anderthalb Jahren schon etwas ruhiger geworden. Die bislang verfeindeten Gangs in Tumaco haben sich zusammengeschlossen. Sie bekriegen sich nicht mehr gegenseitig, sondern – „nur noch“ – mit den rivalisierenden Gruppen von außerhalb.

Mit seinen Großeltern lebt Jailer im Pfahlbautenviertel. Foto: Adveniat/Mareille Landau

Ein sicherer Ort inmitten der Gewalt

Jailer Cortés geht schnell und aufmerksam. „Du weißt hier nie, wem du trauen kannst.“ Seine Taktik: freundliche Distanz. In Nuevo Milenio auf der Straße gibt es kein ungezwungenes Treiben, kein Plausch mit der Nachbarin vor dem Haus, keine spielenden Kinder. Als hätten die Tumaqueños den Gedanken verinnerlicht, auf der Straße schutzlos zu sein. Kein Wunder, wenn sogar zu Hause häufig die Gewalt herrscht. Als er einen hohen Maschendrahtzaun erreicht und durch dessen Tor schlüpft, hellt sich sein Gesicht auf. „Hier fühle ich mich sicher“, sagt der 19-Jährige und lächelt befreit. „Seit vier Jahren komme ich jeden Tag hierhin, um Neues zu lernen, Freunde zu treffen.“ Den Menschen hinter dem Maschendrahtzaun könne er vertrauen. Allen voran Ulrike Purrer. „Sie glaubt an uns, bis wir es selbst tun“, fasst Jailer Cortés mit strahlenden Augen ihr Wirken zusammen.

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Auch Ulrike Purrers Augen leuchten. Dabei haben sie in den vergangenen 12 Jahren schon so viel Schreckliches gesehen. In ihrem kleinen Holzhaus mit zwei Räumen lebt die deutsche Theologin mitten im Viertel Nuevo Milenio. Dort hat sie unterstützt vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat das Jugendzentrum „Centro Afro“ aufgebaut. Hier wird getanzt, gelacht, gerappt, geturnt, gelernt, gebetet und viel miteinander gesprochen. Mit Erfolg. Viele Jugendliche schlossen sich nicht den bewaffneten Gruppen. Einige studieren sogar. Etwas Außergewöhnliches in dieser Stadt, in der nur sechs von zehn jungen Menschen die weiterführende Schule abschließen – weil sie keinen Ort zum Lernen haben, weil sie Geld für die Familie verdienen müssen, weil sie keine Zukunftsperspektiven haben.

Die Arbeitslosenquote liegt in Tumaco bei 88 Prozent. Schnelles Geld bietet der Drogenhandel. „Wir begleiten die Jugendlichen dabei, ein realistisches Lebensprojekt zu entwickeln“, sagt Ulrike Purrer. Dazu gehöre auch, dass sie an sich glauben und ihre Talente entdecken. Die bewaffneten Gruppen beobachten dies teilweise mit Argwohn. Es komme zu Spannungen, auch wenn Ulrike Purrer versucht, ihnen nicht in die Quere zu kommen. „Wir wollen lediglich verhindern, dass die Jugendlichen sich ihnen anschließen, indem wir sie stärken.“ Der Erfolg ist hart erarbeitet. Das Jugendzentrum ist fast das ganze Jahr geöffnet – unabhängig von Starkregen, Stromausfall oder Schießereien im Viertel. Verlässlichkeit, wo auf nichts Verlass ist.

Ulrike und den Jugendlichen im Centro Afro kann Jailer vertrauen. Foto: Adveniat/Mareille Landau

„Meine Familie ist das Centro Afro“

Sonntags verwandelt sich der einzige Raum des Centro Afros in einen Gemeindesaal. Im großen Stuhlkreis wird musiziert, getrauert, gesungen, gebetet, sich umarmt. „Unsere Gottesdienste zeigen, welche Art von Kirche wir vertreten und gestalten, wenn die Jugendlichen gleichberechtigt mitsprechen in der Predigt“, sagt Ulrike Purrer.

In Jugendgruppen wird einmal in der Woche über politische Verhältnisse, Werte, persönliche Sorgen und Erfahrungen gesprochen. Jailer Cortés leitet eine Gruppe, weil Uli, wie sie von allen liebevoll genannt wird, es ihm zugetraut hat. Und tatsächlich: Seine ruhige, aufmerksame, sanfte Art wird geschätzt. Beeindruckend bei diesem jungen Mann, den das Leben schon so oft versucht hat zu brechen. „In meiner richtigen Familie fühle ich mich nicht geborgen“, erzählt er. Seine Mutter ist psychisch krank und oft aggressiv. „Meine Familie ist das Centro Afro. Hier habe ich Menschen gefunden, die mich annehmen, wie ich bin. Ich habe gelernt, auf mich zu hören, mich auszudrücken und anderen anzuvertrauen. So habe ich immer mehr Selbstvertrauen gewonnen – ein unglaubliches Gefühl.“

Alles wegen ihr: Ulrike Purrer. „Sie steht zu ihrem Wort. Sie schützt mich, hört mir zu, ist liebevoll und streng. Uli ist für uns alle da“, sagt Jailer. Sie hat ihm geholfen, den Ausbildungsplatz als Koch zu bekommen. „Sie denkt an unsere Zukunft, wenn wir es noch nicht können.“ Träumen, Zukunftspläne schmieden, sich ausprobieren, das ist in Tumaco normalerweise nicht gegeben. Ulrike Purrer erklärt: „Sie dürfen hier nicht richtig jugendlich sein. Denn Jugend heißt, sich auch mal irren zu dürfen. Aber in einem bewaffneten Konflikt kann der kleinste Fehler tödlich enden.“

Hinzu kommt der Druck von zu Hause. Die meisten Familien erwarten von ihren Kindern, dass sie schnell Geld verdienen. Den verspürt auch Jailer Cortés. Aber er hält dem Druck stand, seine Koch-Ausbildung ist ihm wichtig. An zwei Abenden in der Woche verkauft er Empanadas im Imbiss des Jugendzentrums, dem der Erlös zugutekommt. Er ist einer von den Jugendlichen in Tumaco, die für eine andere Zukunft arbeiten: Als Koch will er ein eigenes kleines Restaurant eröffnen. Sein Ziel: „Menschen an einem Tisch versammeln, zusammen essen und dadurch Frieden stiften.“

Text: Christina Weise; Fotos: Mareille Landau

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„Glaubt an uns – bis wir es tun!“

Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik erleben täglich Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit. Viele haben die Hoffnung auf eine sichere und gute Zukunft verloren. Adveniat und die lokalen Projektpartnerinnen und –partner glauben jedoch an sie und schaffen sichere Orte, wo Jugendliche Perspektiven entwickeln können. Kunst- und Kulturangebote, Workshops und Stipendien ermöglichen ihnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und Kirche und Gesellschaft aktiv zu gestalten.